Reisetagebuch

1. Tulpenfest Morges, 6. Mai 2023

Dieses Erwachen, dieses spriessende Leben

Tulpenrosa tanzen Blütenblätter durch den Maihimmel. Ich bin angekommen im Frühlingsreigen. Endlich ist die Sonne da. Fröhliche 20 Grad. Frühlingsbunt leuchten die Tulpen in den Beeten. Welche Freude. Reigentanzend durch den Park. Orange, Violett, Rot, Gelb, Schwarz, Rosa, Pink, Weiss. Der Frühling ist die Jahreszeit der Farben. Lebenslust und Freudenrausch. Lustwandeln zwischen Frühlingsfrische und Vergänglichkeit. Blütenblätter welken, die Zeit bleibt nicht stehen, bringt Neues und Verblühtes. Auf dem Genfersee segeln die Schiffe. Ich sitze auf einer Bank und atme Sonnenschein. Menschen flanieren, plaudern, essen Crêpes, fotografieren, filmen, freuen sich und lachen, Kinder rennen über den Rasen, von irgendwoher weht Musik. Walzer tanzen an den Gestaden des Sees. In der Ferne die Schneeberge. Winter ade. Frühling sei umarmt. Wie habe ich mich nach dir gesehnt. Sei willkommen. Sei willkommen, du Wunder. Immer wieder, jedes Jahr, dieses Erwachen, dieses spriessende Leben. Tulpenrosa tanzen Blütenblätter durchs Leben.


Der Frühling ist die Jahreszeit der Farben. Die Tulpen leuchten orange, violett, rot, gelb, schwarz, rosa, pink und weiss. (Foto: Morena Pelicano)

 

2. Ascona, 12. Mai 2023

Von Grau zu Grau reiste ich durch den Morgen

Schwere Wolken bauschten sich um halb sieben zum Morgenrund. Regentropfen, die stetigen Begleiter, klatschten an das Zugfenster, brachten die Kälte. Die Wiesen grün und ohne Blumen. Im Zugwaggon war es kalt, und die Menschen lasen Zeitungen und ich trank einen heissen Kaffee. Häuser zogen vorbei, im Tessin waren sie rot, und irgendwo stand eine gelbe Kirche auf einem Hügel. Die Via Borgo in Ascona lockte mit kitschiger Kunst und schrecklich bunter Sommermode. Am Lago Maggiore spazierte ich dahin, eine freche Brise umwehte mich, der See ein wildes Wellen. Der Monte Verità war von Wolken verhüllt, der Himmel grau wie ein altes, verwaschenes Taschentuch, und die Touristen sassen an der Promenade und tranken einen knallorangen Aperitif, so orange wie ein Sonnenuntergang. Als ich zurück zur Bushaltestelle spazierte, schaute ich durch die Fenster einer Galerie und sah Bilder von einer unglaublichen Schönheit, und da ging mir das Herz auf. Doch dann kam der Regen, und ich reiste zurück ins Grau.


In Ascona spazierte ich dahin, eine freche Brise umwehte mich, der See ein wildes Wellen. (Foto: Morena Pelicano)

 

3. Junia, 17. Mai 2023

Und diese Liebe nahm ich mit in die Nacht

Ich reiste durch die Nacht, und der Himmel ohne Sterne, und neben mir sass Junia, die Apostelin aus jener Zeit, als sich Gott nochmals neu erschuf und die Menschen voller Hoffnung waren. Ich fragte Junia: «Hast du auch getanzt und geweint, hast du gelacht und warst du froh, weil ein Neubeginn möglich war?» Bevor ich durch die Nacht reiste, sass ich in einer barocken Kirche. Die Heiligen schauten zur mir herab, und ich schaute hinauf zu den Engeln. Es gab viel Gold, und die Lebendige sang ein Lied, so schön, so schön und begrüsste mich und reichte mir die Hand. Als ich in die Nacht hinaustrat, leuchtete die Abendsonne hinter den Häusern, und der Wind war kalt. An den Bahnhöfen warteten die Menschen auf den Zug, und ich reiste durch die Nacht, und die Erhabene begleitete mich durch die Zeit, und ich fragte Junia, wie es damals war, als sich Gott nochmals neu erschuf, und Junia sagte, es war eine Zeit voller Leben und Liebe. Diese Liebe nahm ich mit in die Nacht, und an der Zugstation sass ein einsamer Mensch.


Ich reiste durch die Nacht, und Junia sagte, es war eine Zeit voller Leben und Liebe. (Foto: Morena Pelicano)

 

4. Sion, 27. Mai 2023

Ich folgte dem Ruf der Trompete

Hoch oben über der Altstadt von Sion stand ich und staunte auf das Häusermeer herunter, und ich schaute und staunte. Mein Blick glitt über all die Dächer und Häuserfronten, über Balkone, Strassen und Gassen, und ich konnte nicht begreifen, wie Menschen in all dem Beton leben konnten. Da erklang aus dem Häusergewirr eine Trompete, so hell und klar und jazzig, dass ich ihrem Ruf folgte und über steinerne Stufen und an Geranien und Rosen vorbei hinunterging, durch schattige Gassen schlenderte, immer dem Ruf der Trompete entgegen. Ich kam zu einem Platz, und da sassen Menschen an Tischen und assen Pizza und tranken Rotwein, plauderten und waren einfach, und die Klänge der Trompete gab dem Leben seinen Rhythmus. Alles war voller Musik, und ich stand da und begriff plötzlich, dass der Mensch sehr wohl zwischen Beton und Häuserfronten leben konnte, wenn da eine Trompete erklang und den Sommertag feierte, tief unten in der Altstadt, und ich staunte und schaute, und alles war schön.


Hoch oben über der Altstadt von Sion stand ich. Da erklang aus dem Häusergewirr eine Trompete, und ich folgte ihren Klängen. (Foto: Morena Pelicano)

 

5. Pfyner Weiher, 4. Juni 2023

Und ich übergebe mich dem Wirbeln der Strudel

Vor einem halben Jahrhundert, Anfang der 1970er Jahre, ich war in der ersten Klasse, da war dort, wo jetzt Gras wächst, ein unendliches Meer, bewohnt von Wasserungeheuern, Strudel wirbelten, und die kleine Insel war umtobt von Wellen, in die sich nur die mutigsten Kinder wagten. Sommer für Sommer trafen sich die Kinder aus dem Dorf zum Baden, und so manche Wasserschlacht wurde zwischen Ufer und Insel ausgetragen. Fünfzig Jahre später, Anfang Sommer 2023, frage ich mich, wo nun die Wasserungeheuer leben, jetzt, da alles nur noch Gras ist, keine Strudel mehr wirbeln und die Insel kein unerforschtes Land mehr ist. Ich staune darüber, wie die Zeit diesen Weiher verändert hat, und heute, mit 57 Jahren, frage ich mich auch, wo denn meine Ungeheuer leben, und sie leben in der Erinnerung, und diese Erinnerungen verändern sich ebenso wie der Weiher, werden zu einem vertrauten Land, das ich immer mal wieder erforsche. Und ich übergebe mich dem Wirbeln der Strudel und tauche hinunter, dort, wo jetzt Gras wächst.


Da, wo jetzt Gras wächst, lebten einmal Seeungeheuer. Fünfzig Jahre später frage ich mich, wo denn meine Ungeheuer nun leben. (Foto: Morena Pelicano)

 

6. Pilgerweg La Neuveville – Biel, 9. Juni 2023

Ich wanderte durch den Tag und pilgerte durch die Zeit

Der frühe Morgen spannte sich über den Bielersee und kletterte die Jurahöhen hinauf. Glücklich darüber, dass der Sommer endlich da war, nach einem langen grauen und kalten Frühling, wanderte ich durch die sattgrünen Reben. Die Morgensonne belohnte mich mit ihrer Wärme und machte mein Herz froh. Ich pilgerte auf einem Jahrhunderte alten Weg, pilgerte dem Tag entgegen, pilgerte durch die Zeit, und alles roch nach Sonne und Sommer. Die Kirche von Ligerz begrüsste mich, und ich erwiderte ihren Gruss, setzte mich auf eine Bank in dem kühlen Raum und liess mich umfangen von der Stille. Als die Glocken die halbe Stunde schlugen und ihr satter Klang mich berührte und mich wieder hinaus in den Morgen riefen, wanderte ich weiter. Ein Schiff schickte den Klang seines Horns über den See und die Hügel. Kinder spielten auf einem Schulhausplatz, ihre Stimmen wie Vogelgezwitscher. Ich wanderte durch Schattenwälder, pilgerte durch den Tag, pilgerte durch die Zeit und pilgerte mir entgegen.


Die Kirche von Ligerz begrüsste mich. Ich pilgerte durch die Zeit und pilgerte mir entgegen. (Foto: Morena Pelicano)

 

7. Domodossola, 17. Juni 2023

Das Glück ist ein Elefant

In Domodossola, Italien, gleich beim Bahnhof, gibt es einen sehr berühmten Markt. In Scharen strömen die Menschen herbei und kaufen Hosen, Hemden, Blusen, Schals und Hüte in allen Formen und Farben. In dem ganzen Getümmel wird auch das Glück verkauft, für fünf Euro, und da kann auch ich nicht Nein sagen. Das Glück ist ein kleiner roter Elefant aus Plastik, er reckt den Rüssel in die Höhe, und Glück kann auch ich immer brauchen. Nun steht der kleine Elefant auf einem Stapel Bücher und schaut aus dem Fenster, denn nur so kann mich das Glück finden. Ohne zu ermüden, steht das Elefäntchen da und guckt in die flimmernden Sommertage, und ich fragte mich, was es wohl sieht und ob nun das Glück herbeieilt und mich küsst. Ich fragte mich, wie das sein wird, wenn es mich küsst. Ich fragte mich, ob ich es denn auch, so mitten im Alltag, überhaupt merken würde, wenn es vorbeikommen würde, das Glück. Und vielleicht, vielleicht ist es ja schon da und ich habe es nur noch nicht erkannt.


Auf dem Markt in Domodossola wird auch das Glück verkauft. Es ist ein kleiner roter Elefant und kostet fünf Euro. (Foto: Morena Pelicano)

 

8. Kirche Sutz, 24. Juni 2023

Durch das Meer und in die Stille

Manchmal gehe ich in eine Kirche, und das letzte Mal war es diejenige in Sutz, im Seenland. Da gibt es ein Fenster, das in leuchtenden Farben die kurze Geschichte von Jona und dem Wal erzählt. Ich sass in der Stille, abseits vom Alltag, und war mit Jona unterwegs, im Bauch des Wals, durch das Meer. Die Wellen tobten und tosten, doch Gott hielt seine schützende Hand über Jona und den Wal, und manchmal gibt es Tage, an denen ich mich frage, wie es wäre, wenn mir Gott einen Wal vorbeischicken würde, der mich sicher und beschützt durch die tobenden und tosenden Wellen des Lebens führen würde. Vielleicht sitze ich deshalb manchmal in Kirchen, um diesen tobenden und tosenden Wellen des Lebens für einen kurzen Augenblick zu entrinnen. Ja, es funktioniert mit diesen kleinen Auszeiten im Bauch des Wals. Umgeben von festen Kirchenmauern verstummt das Toben und Tosen, und alles wird für einen kurzen Augenblick still, das Meer wird sanft, und dann spuckt mich der Wal aus, und ich weiss, wohin ich meine Schritte lenken muss.


Ich sass in der Stille, abseits vom Alltag, und war mit Jona unterwegs, im Bauch des Wals, durch das Meer. (Foto: Morena Pelicano)

 

9. Oberalppass, 2. Juli 2023

Ein Leuchtturm inmitten von Alpenrosen

Mein Traum ist es, in einem Leuchtturm zu wohnen. Da es aber in meinem Leben weit und breit kein Meer gibt und ich trotzdem einmal einen Leuchtturm sehen wollte, reiste ich auf den Oberalppass, denn ich wollte nicht einen x-beliebigen Leuchtturm sehen, nein, es sollte ein sehr exklusiver sein. Auf dem Oberalppass, auf 2’046 Metern über dem Meer, steht der höchstgelegene Leuchtturm der Welt, inmitten von Alpenrosen und Motorradbrausen. So stand ich dann mittags um elf Uhr vor dem Leuchtturm, und er war prächtig rot, aber nach meinem Geschmack ein bisschen klein, und er wirkte auch ein bisschen verloren, so ganz ohne Meer und ohne Schiffe. Doch ohne Strudel und ohne Wellen ist er nicht, denn ganz in der Nähe sprudelt die Rheinquelle, und der Fluss flüstert dem Leuchtturm Geschichten von Schiffen, Kapitänen und Matrosinnen zu. Und ich lauschte den Geschichten, erfuhr von stürmischen Nächten, und der Nebel wallte die Bergflanken entlang, und der Leuchtturm stand da und zwinkerte mir zu.


Ohne Strudel und Wellen ist er nicht, der Leuchtturm auf dem Oberalppass. Die Rheinquelle erzählt ihm Geschichten von Schiffen, Kapitänen und Matrosinnen. (Foto: Morena Pelicano)

 

10. Baumwipfelpfad Mogelsberg, 7. Juli 2023

Ich danke den Bäumen für ihre Gesellschaft

Der Baumwipfelpfad im Neckertal ist tatsächlich das, was er verspricht: aussergewöhnlich. Zwischen Baumkronen zu spazieren, ist doch eine ganz andere Perspektive, als unten bei den Wurzeln zu stehen und hinaufzuschauen. Weisstanne, Bergahorn, Esche, Fichte, Waldföhre, Douglasie und Eibe bestaune ich ganz aus der Nähe. Ich bin sowieso ein Baumfan, und ich schlendere auf dem 500 Meter langen Wipfelpfad so dahin, von allerhand beflügelten Gedanken begleitet, und einer davon ist, dass der Mensch manchmal supergeniale Ideen hat. Eine davon ist eben diese Brücke, am höchsten Punkt 45 Meter über der Erde. Die Perspektive ist grandios, weit ins Toggenburg hinaus, den Baumkronen so nah, und mein Fernweh wird gestillt auf wunderbare Weise, und ich verweile, rieche die Blätter und die Nadeln. Kinder machen einen Baumwipfelwettbewerb, und so nebenbei höre ich, dass die Eibe in bestimmten Kulturen ein heiliger Baum ist. Schön, und ich danke den Bäumen für ihre Gesellschaft, und mir ist ganz leicht und beschwingt zumute.


Ich schlendere auf dem 500 Meter langen Baumwipfelpfad so dahin. Ich rieche die Blätter der Esche und die Nadeln der Waldföhre. (Foto: Morena Pelicano)

 

11. Freilichtmuseum Ballenberg, 14. Juli 2023

Fröhliches Gärtnern

Als ich durch das Freilichtmuseum Ballenberg spazierte, kam ich an diesem prächtigen Gemüsegarten vorbei. Ich verweilte, und als ich den Weisskohl, den Lauch, die Zwiebeln und die Zucchini bestaunte, da kam mir die Idee, dass man eigentlich aus dem Rasen, der in meinem Blockquartier so vor sich hin wächst, einen Gemüsegarten machen könnte. Im Geiste sah ich meine Nachbarn, von denen ich nur knapp den Namen weiss, abends die Beete harken und die Tomaten aufbinden. Ich plauderte mit ihnen über die Himbeerstauden hinweg, und wir tauschten uns aus über Brennnesselsud und die hingebungsvolle Pflege von Damaszenerrosen. Später am Abend sassen wir zusammen auf der Bank, tranken ein kühles Bier und philosophierten über das beste Rezept für Ratatouille. Als ich wieder in die Gegenwart zurückkehrte, fragte ich mich, warum es kein Menschenrecht auf einen Garten gibt, und ich bin auch jetzt noch davon überzeugt, dass die Menschen im Quartier fröhlicher wären, wenn wir statt des Rasens einen Gemüsegarten hätten.


Als ich im Freilichtmuseum Ballenberg den Lauch, die Zwiebeln und die Zucchini bestaunte, dachte ich, dass die Menschen in meinem Blockquartier fröhlicher wären, wenn wir statt des Rasens einen Gemüsegarten hätten. (Foto: Morena Pelicano)

 

12. An Tagen wie diesen, 15. Juli 2023

An Tagen wie diesen

An Tagen wie diesen, wenn die Amsel mit einem Lied den Tag beginnt, wenn das frühe Licht des Morgens die Nacht erhellt, wenn der Himmel sich zum Kreis formt, an Tagen wie diesen, da frage ich mich, woher das alles kommt, die Amsel, die Lieder, der Kreis.

An Tagen wie diesen, wenn der Sommer durch die Felder streift und die gelben Rosen unter dem ewig blauen Himmel Reigen tanzen, an Tagen wie diesen, wenn alles erledigt ist und die Zeit zum Denken reicht, dann frage ich mich, woher das alles kommt, die Rosen, der Himmel, der Sommer.

An Tagen wie diesen, wenn die Welt still ist und schweigt, wenn nur noch der Wind in den Bäumen flüstert und die Wellen des Sees ein kleines Lied summen, an Tagen wie diesen frage ich mich, woher das alles kommt, die Bäume, der See, die Welt.

An Tagen wie diesen, wenn der Lavendel blüht, die Schiffe auf den Meeren segeln, die Fragen leise an die Türen klopfen, wenn Kinder spielen in den Gärten, wenn Flugzeuge am Himmel brummen und Bienen in den Blumen summen, dann frage ich mich, woher das alles kommt, die Kinder, die Bienen, die Fragen.

An Tagen wie diesen, wenn die Drachen am Himmel tanzen, wenn die Menschen im Schatten ruhen, wenn die Antworten wie Kirschen sind, dann frage ich mich, woher das alles kommt, die Drachen, die Menschen, die Antworten.


An Tagen wie diesen, da frage ich mich, woher das alles kommt, die Rosen, der Himmel, der Sommer. (Foto: Morena Pelicano)

 

13. Morgenstunde Sutz, 20. Juli 2023

Morgenkonzert

Möwen kreischen, Enten schnattern, Haubentaucher piepen, Vögel zwitschern, Raben krächzen, und eine schwarze Katze streift durch den Park am See. Einen Sonnenaufgang habe ich mir heute angesehen, und das Licht kam sehr schnell. Aber es war nicht die Sonne, die mich in ihren Bann zog, nein, es war das sprichwörtliche Morgenkonzert, das meine Sinne fesselte. Im Dämmerlicht lag der See da, auf der anderen Seite, bei den Rebenhängen, donnerten die ersten Lastwagen und die ersten Züge dem Tag entgegen. Und all diese Vögel, die ich tagsüber, wenn ich am See bin, gar nicht wahrnehme, haben mich in Erstaunen versetzt. Wann habe ich das letzte Mal ein so grossartiges Konzert gehört? Ein vielstimmiges Erwachen, ein Kreischen, Schnattern, Piepen, Zwitschern und Krächzen, dass mir fast sturm wurde. Ich habe Stille erwartet, ein liebliches Trillern, einen sanften Morgenkuss, und dabei wurde ich mit einer stürmischen Umarmung begrüsst.


Im Dämmerlicht lag der See da, und ein vielstimmiges Erwachen kündete den Tag an, ein Kreischen, Schnattern, Piepen, Zwitschern und Krächzen, dass mir fast sturm wurde. (Foto: Morena Pelicano)

 

14. Heididorf Maienfeld, 31. Juli 2023

Ein Weltstar aus den Bergen

Das Heididorf liegt oberhalb von Maienfeld, Kanton Graubünden, und nach 45 Minuten bergaufgehen begrüssten mich Ziegen mit ihrem fröhlichen Gemecker. Eigentlich habe ich sentimentalen Kitsch erwartet, doch ich wurde positiv überrascht. In der Alphütte bestaunte ich das Heubett, in dem Heidi geschlafen hat, und den Käsekessel, in dem der Alphöhi den Ziegenkäse zubereitete. Es gibt zahlreiche Schautafeln, die ohne Brimborium einen guten Einblick in die Jahre 1880 und 1881 geben, als Heidi beim Alphöhi gelebt hat. Die Geschichte von Heidi berührt mich immer wieder, und auch ich habe manchmal Heimweh nach der Heimat, würde gerne in einer Alphütte leben, würde gerne über dem Feuer geschmolzenen Käse und währschaftes dunkles Brot essen und noch warme Ziegenmilch trinken. Und als ich so durch das Dörfchen mit dem Rathausstall, der Schule und dem Haus der Grossmutter spazierte, da hätte ich mir am liebsten die Schuhe ausgezogen und hatte Lust, barfuss mit Heidi und Peter über die Matten zu laufen und den Bergen zuzurufen: «Das ist Heimat!»


Am liebsten wäre ich barfuss mit Heidi und Peter über die Matten gelaufen und hätte den Bergen zugerufen: «Das ist Heimat!» (Foto: Morena Pelicano)

 

15. Brissago-Inseln, 10. August 2023

Adlige Träume auf der Brissago-Insel

In den fernen Süden reiste ich, bestieg in Ascona das Schiff, und 20 Minuten später setzte ich meinen Fuss auf eine der Brissago-Inseln und liess mich bezirzen von all dem üppigen Grün. Ich stellte mir vor, dass ich eine adlige Dame wäre, die auf der Suche nach Ideen sei, um eigenhändig einen Park zu pflanzen. So lustwandelte ich am gezähnten Lavendel vorbei, liess meine Finger über den Straussenfarn gleiten, bestaunte den Zylinderputzer, schaute in die Krone einer Sumpfzypresse, liess mich von einer Korkeiche beeindrucken, wunderte mich über die Kleinblütige Zistrose, schnupperte am Mönchspfeffer, suchte den Peruanischen Blaustern. Die Schwarze Schwalbenwurz wuchs zwischen Steinen, die Italienische Strohblume war verblüht, und das Strauchige Hasenohr machte mir Eindruck. So hatte ich nun Inspiration gefunden, was ich in meinem eigenen Botanischen Garten alles pflanzen möchte. Jetzt ging es nur noch um die Kleinigkeit, ein herrschaftliches Stück Land zu kaufen, denn mein Vier-Quadratmeter-Balkon war arg klein. So musste ich mich denn mit dem Träumen begnügen, und da ich eine adlige Dame war, waren auch meine Träume adlig, und ich schwelgte und lustwandelte auf der Heimfahrt durch meinen imaginierten Botanischen Park, in dem auch ein Erdbeerbaum seinen Zauber verbreitete.


Auf der Brissago-Insel stellte ich mir vor, dass ich eine adlige Dame wäre. Ich lustwandelte zwischen gezähntem Lavendel, Straussenfarn und Zylinderputzer, und der Erdbeerbaum verzauberte mich. (Foto: Morena Pelicano)

 

16. Offener Bücherschrank, 30. August 2023

Der alternative Bücherladen

Ob Mobiltelefone das Leben einfacher und schöner machen? Nicht in jeder Hinsicht. Aber ein Aspekt der ewigen Erreichbarkeit wurde bis heute noch nirgends diskutiert. Seit alle Menschen eine eigene Telefonstation mit sich rumschleppen, haben die öffentlichen Telefonkabinen so ziemlich ausgedient. Und irgendein supergenialer Mensch ist auf eine supergeniale Idee gekommen, nämlich, die leeren Telefonkabinen mit Büchern zu füllen. Und so ist mein gratis Buchladen mit dem Zug in fünf Minuten zu erreichen. In Gerolfingen, bei der Bahnstation, blättere ich durch die Bücher, und so manche lesende Trockenzeit wird mit meistens spannender Lektüre gefüllt. Dabei konnte ich auch feststellen, dass ich bei Weitem nicht die Einzige bin, die eine Schwäche für Psychothriller hat. Von denen hat es am meisten. Wenn ich sie ausgelesen habe, dann bringe ich sie wieder zurück, denn solche Psychothriller kann ich nur einmal lesen. Gut, dass das Handy erfunden wurde.


Eine supergeniale Idee: die leeren Telefonkabinen mit Büchern zu füllen. So ist mein gratis Buchladen in fünf Minuten mit dem Zug zu erreichen. (Foto: Morena Pelicano)

 

17. Uelzen, Deutschland, Weg des Friedens, 19. August 2023

Ich wanderte auf dem Weg des Friedens

Ich wanderte auf dem Weg des Friedens durch einen kühlen Schattenwald. Die Sonne spielte mit ihrem Licht und liess zwischen den schwarzen Baumstämmen das Grün der Farne wie ein Feuer auflodern. Frieden schwebte in den Baumkronen, der Himmel atmete Frieden, und auch in mir lag dieses Ja-sagen-Können zum Frieden, der mich in seine tröstenden Arme nahm und mir zuflüsterte: «Und es ist gut.»

Und als ich so wandelte, da dachte ich wieder einmal an Junia, meine Reisegefährtin durch die Nacht, und ich fragte sie: «Was fühltest du, als du das erste Mal von dem Gott hörtest, der Himmel und Erde, die Pflanzen und die Tiere und die Menschen erschuf?» Junia antwortete: «Da habe ich das erste Mal in meinem Leben eine Heimat gefunden. Chaos, Wüste und Dunkelheit hatten ein Ende. Gottes Geistkraft bewegte sich angesichts der Wasser. Gott gab den Menschen einen Anfang, bei dem nicht Krieg und Elend und Ungerechtigkeit tobten. Gott schuf das Licht, und aus diesem Licht wurde die ganze Schöpfung geboren.»

Junia und ich spazierten durch den Wald, und das Licht war Friede.


Frieden schwebte in den Baumkronen, und Junia sagte: «Da habe ich das erste Mal in meinem Leben eine Heimat gefunden.» (Foto: Morena Pelicano)

 

18. Binäre Uhr, Bahnhof St. Gallen, 6. September 2023

Wenn die Spatzen von den Dächern pfeifen

Ich begreife nicht, wie die binäre Uhr funktioniert, die am Bahnhof St. Gallen die Zeit anzeigt. Als ich so über dieses Funktionieren nachdachte, da fragte ich mich, ob ich überhaupt verstand, wie Zeit funktioniert.

Jeden Tag schaue ich x-mal auf meine Uhr, teile meinen Tag und mein Leben nach der Zeit ein, nach den Stunden und Minuten, nach den Jahreszeiten, nach Morgen, Mittag, Abend und Nacht. Ich folge dem Zeiger gehorsam, folge den Jahreszeiten, trinke meinen Morgenkaffee immer zur gleichen Zeit.

Und als ich mir eingestand, dass ich eigentlich auch diese Zeiten nicht wirklich begriff, da fragte ich mich, wo die Menschheit wohl stehen würde, wenn wir nicht alle nach der Zeit, die uns die Uhren und der Rhythmus der Jahreszeiten anzeigen, leben würden. Wie würden wir uns verständigen, wenn wir nicht das Mass der Zeit hätten? Würden wir dann sagen, wir treffen uns dann, wenn die Spatzen von den Dächern pfeifen? Und wenn die Spatzen nicht pfeifen, würde dann die Zeit stillstehen?


Keine Ahnung, wie die binäre Uhr am Bahnhof von St. Gallen funktioniert. Und ich fragte mich, ob ich überhaupt verstand, wie Zeit funktioniert. (Foto: Morena Pelicano)

 

19. Im Herzen erwacht, 12. September 2023

20-fache Cumulus-Punkte für einen Walzer

Auf die Eisenbahnbrücke zwischen Nidau Beunden und Nidau hat ein kluger Mensch folgende Worte hingesprayt: «Im Herzen erwacht.» Jedes Mal, wenn ich am Morgen früh daran vorbeiwalke, macht mein Herz einen jubelnden Hüpfer. Gerne würde ich diesem Menschen, der mit Spraydose und Herz ans Werk ging, einmal persönlich begegnen. In meiner Fantasie ist dieser Mensch jung, das Geschlecht habe ich mir nicht überlegt, aber ich denke, dass es ein Mensch voller Tatkraft ist, der sprayt und die Welt auf gute Gedanken bringt. Wäre es nicht schön, wenn diese drei Worte «Im Herzen erwacht» bei jedem Supermarkt vom Dach leuchten und bei jedem Bahnhof an den Plakatwänden prangen würden? In meiner Fantasie spielt auch jemand auf einem Akkordeon einen Walzer, einen munteren, und die Menschen tanzen fröhlich miteinander, anstatt auf den Handybildschirm zu starren. Und vor dem Supermarkt gäbe es die 20-fachen Cumulus-Punkte für jeden Drei-Minuten-Walzer und für jedes freundliche Wort.


Wäre es nicht schön, wenn diese drei Worte «Im Herzen erwacht» bei jedem Supermarkt vom Dach leuchten würden? Und ein Mensch spielt auf dem Akkordeon, und die Menschen tanzen Walzer. (Foto: Morena Pelicano)

 

20. Bielersee, Sutz, 20. September 2023

Des Sommers letzter Kuss

Im letzten Licht des Abends, die Sonne orange sinkt. Ich weile an den Ufern, der See ein Tuch aus blauem Samt. Der Sommerabend gleitet sonnensatt voll Zärtlichkeit ins Dämmerlicht. Die Lebenslust webt eine Liederbrücke, in Harmonien, Glockenblumen gleich. Ein Sonnenschiff setzt seine Segel. Ich schmücke mich mit Perlenketten, aus Sonnenflimmern jetzt zur Nacht. Akazienblätter summen Melodien, Anemonen zupfen Saitenspiele, der Sommer trunken schwebt. Goldgegossene Tage voller Licht. In den Gärten die Königskerzen, wie Priesterinnen in gelben Kleidern, beten sie die Psalmen wieder und singen in Sonnenkreisen, von Tanz und Freude und Fest.

Im letzten Licht des Abends schreite ich durchs Sommerland. Der Wind in den Kronen der Eiche von gedeckten Tischen erzählt. Ein frohes Lachen schwingt über den See aus blauem Samt. Die Kelche geleert bis zur Neige, das Silber funkelt im Mond, Truhen voller Münzen, der Sommer ein gleissender Schatz, gehütet unter den Farnen, geborgen im Licht der Nacht. So lasse ich dann gehen des Sommers reiche Fülle, umarme ihn noch einmal, diesen Freund aus rotem Mohn und reifem Korn. Und der Sommer schenkt mir einen letzten Kuss aus Licht.


Ich weile an den Ufern, der See ein Tuch aus blauem Samt. Der Sommerabend gleitet sonnensatt voll Zärtlichkeit ins Dämmerlicht. (Foto: Morena Pelicano)

 

21. Gotthelf Museum Lützelflüh, 26. September 2023

Der unbequeme Jeremias Gotthelf

Um es gleich vorwegzunehmen: Für mich ist Jeremias Gotthelf der grösste Schweizer Schriftsteller, und niemand vor ihm und nach ihm hat so grossartige Literatur geschrieben. Mit bürgerlichem Namen hiess der Unruhestifter Albert Bitzius (1797 – 1854) und wirkte von 1832 als reformierter Pfarrer in der Emmentaler Gemeinde Lützelflüh. Vier Jahre später erschien sein erster Roman «Der Bauernspiegel», das erste von mehr als 20 Büchern. Aus der Sicht des Protagonisten Jeremias Gotthelf schreibt er über das karge Leben eines Verdingkindes, erzählt von Not und Elend, Gewalt und Hunger.

In seinem Studierzimmer im Pfarrhaus sass er morgens um sechs Uhr am Schreibtisch und liess seine spitze Feder sprechen. Einmal, als seine Frau Henriette, geborene Zeender, ihn fragte, warum er die Mühe des Schreibens auf sich nehme, antwortete er entschlossen: «Und wenn ich sie auch nicht ändern kann, so wäre es doch eine Sünde zu schweigen, wenn man die Bresten kennt, an denen unser Volk leidet. Erst gestern habe ich wieder von einer gehört. Da wurden Kinder förmlich ausgerufen wie unvernünftiges Vieh. … Da darf ein Christ nicht schweigen» (Zitat aus: Paul Eggenberger: Jeremias Gotthelf – Aus seinem Leben, Wirken und Kämpfen. Egg/Zürich 1984). Am Leben seiner drei Kinder, um die sich seine Frau kümmerte, nahm er regen Anteil, trotz der immensen Verpflichtungen, die er neben seinem Pfarramt übernahm. Er war Schulkommissär, schrieb unermüdlich Briefe und über 100 Zeitungsartikel, Kalendergeschichten, war Armenpfleger und empfing unzählige Besucher.


In seinem Studierzimmer im Pfarrhaus Lützelflüh sass der Pfarrer Albert Bitzius morgens früh am Schreibtisch und liess Jeremias Gotthelf mit spitzer Feder sprechen. (Foto: Morena Pelicano)

 

22. Monte Verità, Ascona, 3. Oktober 2023

Eine Insel im täglichen Treiben

Windgeflüster in den Bambusblättern. Der Herbst ein Flügelschlag in der Zeit. Das Harz der Föhren durch den Tag streicht. Himmelsdunst über den fernen Bergen. Die Sonne ein Fest aus Licht und Freude. Unter dem Dach des Pavillons der Atem ruhig fliesst. Stimmengeflüster sich verwebt mit den Ästen der Buchen. Menschen kommen und gehen, und alles verweht. Ein Zen-Garten entfaltet seine wohltuende Kargheit, Wellenlinien formen den Kies, und Steine ruhen darin. Die Gedanken kommen zum Schweigen, Worte müssen nicht sein. Versunken den Zen-Garten erleben, eine Insel im täglichen Treiben. Die Schatten wandern dem Nachmittag zu. Ich bin ein Fleck aus Sonne, und die Welt ein leises Murmeln, das unter dem Himmel sich entspinnt. Die Ruhe ist ein Meer, das mich umarmt mit Gelassenheit. Und ich steige den Berg hinunter, zurück in das Treiben der Zeit.


Der Zen-Garten auf dem Monte Verità entfaltet seine wohltuende Kargheit. Die Gedanken kommen zum Schweigen, Worte müssen nicht sein. (Foto: Morena Pelicano)

 

23. Museum für Kommunikation, Bern, 11. Oktober 2023

Rote Schnürsenkel und violette Haare

Im Museum für Kommunikation in Bern habe ich so allerhand Neues erfahren. Zum Beispiel, dass auch rote Schnürsenkel kommunizieren. Überhaupt, alles, was der Mensch macht, ist Kommunikation. Auch wenn der Mensch schweigend auf einer Bank sitzt, sendet er Zeichen. Ob ich einen Rucksack mit violetten Blumen trage oder eine Gucci-Tasche, ob ich in Jeans mit Rissen gehe oder mich in einem Deux-Piece zeige, ich sende Signale an die Umwelt, und ich sage mit einem Bürstenschnitt oder mit Borsalino, wer ich bin oder wer ich sein möchte. Wenn ich im Zug sitze und in einem Buch lese, teile ich den Mitreisenden schon ziemlich viel über mich mit. Ob ich in Wanderschuhen unterwegs bin oder im Sommer am See liege, alles definiert mich und ich werde von den Menschen definiert. Ob all der Zeichen, die die Menschen senden, könnte einem ganz sturm werden. Da ist es manchmal hilfreich, die Scheuklappen aufzusetzen und die Menschenmassen an sich vorbeiziehen zu lassen. Und als ich kürzlich in der Pampa auf einen Zug wartete, sah ich eine junge Frau mit langen, violetten Haaren, und ich fand sie cool. So cool, dass ich sie verstohlen anblickte und mich fragte, was sie mir wohl mit ihrer Haarfarbe sagen will.


«Man kann nicht nicht kommunizieren», stellte Paul Watzlawick fest. Auch rote Schnürsenkel und violette Haare senden eine Botschaft. (Foto: Morena Pelicano)

 

24. Mont Blanc, Frankreich, 17. Oktober 2023

Ich fühlte mich wie eine Weltenentdeckerin

Ich weiss nicht, wie es kam, auf jeden Fall sass ich eines Tages im Zug und reiste nach Martigny, denn ich wollte den Mont Blanc sehen, dachte, den muss ich mir jetzt einfach anschauen. Der berühmte Mont-Blanc Express war grad ausser Betrieb, so setzte ich mich in Martigny ins Postauto, früh um sieben nach neun Uhr, und dann begann die schönste Fahrt, die ich bis jetzt mit dem Postauto gemacht habe. Es war ein prächtiger Herbsttag, und zwei Stunden lang fuhr ich durch einen Wald, der war so unglaublich schön, dass ich gar nicht mehr aus dem Staunen und Schauen herauskam. Ich segelte auf einer Wolke aus Glück durch die Zeit, und in Chamonix, Frankreich, stieg ich aus, bestaunte den 4’792 Meter hohen Mont Blanc, guckte und schlenderte ein bisschen durchs Städtchen. Ich fühlte mich wie eine Weltenentdeckerin, guckte noch ein bisschen mehr und fand den Schnee auf dem Berg sehr eindrücklich. Ich stieg wieder in den Bus und fuhr zurück nach Martigny und war schlicht und einfach glücklich.


Ein Stück des Mont Blanc in Chamonix, Frankreich. Ich fühlte mich wie eine Weltenentdeckerin und fand den Schnee auf dem Berg sehr eindrücklich. (Foto: Morena Pelicano)

 

25. Thuner Wasserzauber, 29. Oktober 2023

Bin Ton, bin Farbe und Licht

Es sprudelt das Wasser und spritzen die Fontänen, in Wellen aus Violett und Blau und Weiss und Pink. Die Nach ist schwarz, und die Farben sind wie eine Offenbarung der Freude. Im Takt der klassischen Musik werde ich hineingepuscht in diese Leichtigkeit, fliege hinauf zu den Spitzen der Fontänen, sprudle hinunter in das Aarebecken in Thun, lasse mich herumwirbeln von den dramatischen Geigen, bin Ton, bin Farbe und Licht, so leicht, so leicht wie ein Wassertropfen im Wind. Fächer und Säulen und Schleier aus Wasser, und der Mond zieht auch eine Show ab hinter den gebauschten Wolken, und alles ist wie ein schöner Traum, aus dem ich nicht erwachen möchte. Das Licht wirft grüne Linien auf das Wasser, blaue Säulen tragen mich zum Himmel, ich fliege dahin wie ein Stern, funkle, glitzere, leuchte, bin eine Posaune, bin violette und weisse Strahlen. Und dann kehre ich ins Dasein zurück und bin verzaubert von dieser Wasserkunst, und in meinem Traum sprudelt das Wasser und spritzen die Fontänen in Wellen aus Violett und Blau und Weiss und Pink.


Im Takt der klassischen Musik fliege ich hinauf zu den Spitzen der Fontänen, bin violette und weisse Strahlen. (Foto: Morena Pelicano)

 

26. Kunstmuseum Winterthur, 7. November 2023

Der Wanderer über dem Nebelmeer

Schon oft hatte ich es in der Zeitung gesehen, das Bild vom Wanderer über dem Nebelmeer. Also ging ich ins Kunstmuseum in Winterthur, um dieses vielgerühmte Werk des Kunstmalers Caspar David Friederich (1774 – 1840) im Original zu bestaunen. Zuerst aber staunte ich über die vielen Besucherinnen und Besucher, die vor der Kasse Schlange standen. Ich stieg die Treppe hinauf und trat in den Ausstellungsraum, der eher etwas abgedunkelt war, da das Kunstlicht nicht gut für die alten Gemälde ist. Vor dem Wanderer über dem Nebelmeer drängten sich die Leute, und geduldig wartete ich, bis der Platz frei war. Dann stand ich da und schaute, und ich war doch ziemlich überrascht, dass mich das Bild etwas ratlos machte, denn die vielgepriesene Freude über die freie Natur wollte sich bei mir nicht einstellen. Der Wanderer wirkte auf mich sehr einsam, verloren über dem Nebelmeer, ausgeliefert diesem wallenden Weiss, und ich fragte mich, ob dieser Wanderer den Heimweg wiedergefunden hatte oder ob er da oben geblieben war, gefangen in diesem wallenden Weiss.


Der Wanderer über dem Nebelmeer, von Caspar David Friederich, wirkte auf mich sehr einsam, und ich fragte mich, ob er da oben geblieben war, gefangen in diesem wallenden Weiss. (Foto: Morena Pelicano)

 

27. Rendez-vous Bundeshaus, 17. November 2023

Mystische Welten mit Elfen und Pilzen

Auf dem Bundesplatz in Bern standen die Menschen dicht an dicht. Die Schirme ragten über die Köpfe, der Regen fiel in leichten Tropfen. Fliegenpilze sprossen aus dem Waldboden. Elfen trugen beleuchtete Fenster. Efeu rankte sich an Säulen empor, ein Wolf schritt majestätisch durch den mystischen Wald. Bäume wuchsen in den Himmel, Zwerge kletterten die Mauern hinauf, und ein Gnom schaute auf die Leute herab. Alles war wie ein LSD-Trip, wie ein Blick durch ein Kaleidoskop, untermalt von rockiger Musik. Ich wusste nicht mehr, was oben und unten, was links und rechts war. Verwirbelt waren meine Sinne, es war wie eine Brausetablette aus Licht und Farbe und Klang. Feen haschten nach mir, ein Bär strolchte durch die Nacht. Spinnen webten flink ihre silbrigen Netze, Eulen riefen. Ein Hexenhäuschen aus Lebkuchen und Zuckerguss lockte. Ich brach mir ein Stück ab, knabberte daran und flog auf dem Trip durch die Nacht.


Alles war wie ein LSD-Trip, ganz legal und erst noch gratis. (Foto: Morena Pelicano)

 

28. Sutz, Herbst, 23. November 2023

Augenblicke aus Gold und Kupfer

Es gibt diese Augenblicke im Herbst, wenn nach tagelangem Regen und trübem Wetter plötzlich die Wolkendecke aufreisst und eine Sonne scheint, die alles Triste und alles Grau hinwegfegt. Da hatte mich die Sonne hinausgelockt. Ich ging in den Wald, und ich fühlte mich leicht und unbeschwert. Ich fühlte mich wie ein Glückskind. Ich spazierte durch den Wald. Die Blätter der Buchen und Eichen funkelten in Gold und Kupfer. Die Tannen glänzten in sattem Grün, und auf den Farnen schillerten Sonnenflecken. Ich spazierte leichten Schrittes auf dem Weg dahin, verzaubert von der Sonne und ihrem magischen Wirken. Solche Augenblicke bewahre ich in einer Schatulle aus Ebenholz auf. Ich lege sie auf den roten Samt, und wenn dann die trüben und grauen Tage sich aneinanderreihen wie Perlen auf einer Schnur, dann hole ich die Schatulle hervor und öffne sie. Da liegen sie dann, das Gold und das Kuper. Die Blätter, die Sonne und der Duft der Tannennadeln. Erinnerungen an dieses leichte und unbeschwerte Gefühl.


Die Bäume verzaubert von der Sonne und ihrem magischen Wirken. (Foto: Morena Pelicano)

 

29. Weihnachtsbeleuchtung Bahnhofstrasse Zürich, 1. Dezember 2023

Die Schöne ist ein bisschen nüchtern

Von Lucy habe ich im Internet gelesen. Nur Gutes. Schön soll sie sein, stand da. Eine Augenweide. Weihnächtlichen Zauber solle sie verbreiten. Also auf nach Zürich, durch den Hauptbahnhof, mit der Rolltreppe hinauf, hinein ins nasse und frostige Schneetreiben. Da funkelte sie nun, über den Menschen unter ihren Regenschirmen. In Blau funkelte sie, Sterne sollen ihre Lichter sein, zehntausend und ein bisschen mehr. Nun ja, sie hat mich nicht wirklich in ihren Bann gezogen, die schöne Lucy. Für meinen Geschmack sah sie ein bisschen mickrig aus, wie soll ich es sagen, irgendwie war sie schon schön, aber ich hätte es lieber üppiger, denn ich fand sie so schrecklich nüchtern, ein bisschen abgemagert, ein bisschen gar dünn. Weihnachtsstimmung kam bei mir nicht auf, als ich unter diesen Sternen im nassen Schneeregen stand. Ich finde, in der Adventszeit sollte mit dem Licht geprotzt werden. Sterne hätte ich gerne. Gross, mit warmem, goldenem Licht. Lucy war blau und violett. Und irgendwie fand ich, in den Sommernächten, so morgens um zwei Uhr, würde ich sie gerne funkeln sehen. Da würde sie hinpassen mit ihrer kargen Nüchternheit.


Lucy leuchtet mit zehntausend und ein bisschen mehr Sternen in der Bahnhofstrasse in Zürich. (Foto: Morena Pelicano)

 

30. Münsterturm, Bern, 9. Dezember 2023

Alles so ordentlich

Gesehen habe ich ihn schon oft, den Münsterturm von Bern, der höchste Kirchturm einer reformierten Kirche in der Schweiz, hundert Meter ragt er in den Himmel. Es gibt Dinge im Leben, die man einmal gemacht haben muss, wie zum Beispiel auf dem Münsterturm in Bern stehen. So bin ich also die 304 Stufen hinaufgestiegen in einem Treppenhaus, das so eng ist, dass ich mir unglaublich breit vorkam. Als ich den Rundgang auf 64 Meter Höhe erreichte, da trat ich hinaus und sah eine ordentliche Stadt. Das Bundeshaus sah auch sehr ordentlich aus. All die Dächer und Gassen, wirklich, sehr, sehr ordentlich. Auch die Weihnachtsmärkte, die ein bisschen leuchteten, sehr, sehr, sehr ordentlich. Warum Bern die Bundeshauptstadt ist, weiss ich nicht. Aber irgendwie passt es. Diese ganze Ordentlichkeit, alles abgezirkelt, kein Fitzelchen, das aus der Reihe tanzt, und dann die drei oder vier Bäume in dieser ordentlichen Stadt. Das fand ich schon ziemlich verwegen.


Die Dächer von Bern sehen ziemlich unordentlich aus. Aber die Strassen und Häuser stehen sehr manierlich da. (Foto: Morena Pelicano)

 

31. Weihnachtsmarkt Münsterplatz, Basel, 14. Dezember 2023

Leuchtende Schneeflocken und Kartoffelpuffer mit Apfelmus

Ich mag Weihnachtsbeleuchtung, gern üppig und funkelnd. Zürich hatte mich nicht überzeugt. Deshalb reiste ich nach Basel. Die Nacht legte sich schön schwarz über die Stadt, denn auch die Nacht weiss, dass Lichter umso schöner leuchten, je schwärzer sie ist. Vor dem Basler Münster spielte eine Teenagerin auf einer Geige Lieder, die ein bisschen ohne Melodie waren, aber sie spielte tapfer, und in dem aufgeklappten Instrumentenkoffer lagen einige Münzen. Vor dem Eingang zum Weihnachtsmarkt stand ein grosser und sehr imposanter Weihnachtsbaum, so richtig schön üppig. In den Bäumen leuchtete es rund, und es sah aus wie Schneeflocken. Endlich hatte ich gefunden, wonach ich suchte. Am ersten Stand wurden Model für Änisguetzli verkauft. Danach kam einer, an dem Seidenschals angeboten wurden. Dann gab es noch Steine mit heilenden Energien, Wollmützen, Handyhüllen aus Holz und kunstvoll geschnitzte Heiligenfiguren. Aber was mich wirklich erstaunte, war all das Essen, das verkauft wurde. Gegrillte Fleischspiesse, Kartoffelpuffer mit Apfelmus, Würste, Crêpes mit Nutella, Waffeln mit Zimt und Zucker, Bananen mit Schokolade, Raclette, Fondue, Pommes, Hamburger, Hotdogs. Dafür gab es keine Weihnachtsmusik. Warum nur wird so viel Essen verkauft? Sind die Menschen in der Adventszeit so unglaublich ausgehungert? Gibt es in den restlichen elf Monaten des Jahres zu wenig zu essen? Über diesen Hunger habe ich nachgedacht, als ich wieder nach Hause fuhr. Ich habe mich gefragt, ob die Menschen denn satt werden und ob sie wirklich, wirklich nach Crêpes mit Nutella und Kartoffelpuffer mit Apfelmus hungern.


Es funkelte so schön in der schwarzen Nacht. (Foto: Morena Pelicano)

 

32. Heisser Brunnen, Baden, 28. Dezember 2023

Einmal anders baden

So baden wie die Römer, das wollte ich auch einmal erleben. In Baden fand ich das, wonach es mich gelüstete. Dort gibt es, gleich hinter dem luxuriösen Wellness-Tempel Fortyseven, eine budgetfreundliche Möglichkeit, mich wie eine Römerin zu fühlen. Der Heisse Brunnen war gut besucht, als ich bei noch nicht frostigen Temperaturen mein Badekleid anzog. Im grossen Becken sassen ein halbes Dutzend Erwachsene und zwei Kinder im etwa 37 Grad warmen Thermalwasser. Also setzte ich mich zu drei Männern im kleinen Becken, das etwa 43 Grad warm war. Was für ein köstliches Gefühl. Mit halbem Ohr hörte ich zu, wie die Männer übers Fliegen fachsimpelten, einige Meter tiefer unten sprudelte die Limmat. Ich war quietschvergnügt und dachte, dass die Römer sehr weise gewesen sein mussten, wenn es um die angenehmen Seiten des Lebens ging. Ich lag so im warmen Wasser, schaute den Himmel an und kam zu dem Schluss, dass so ein Thermalbrunnen vor der Haustür eine feine Sache wäre. Jeden Morgen eine halbe Stunde im heissen Wasser liegen und ganz entspannt in den Tag starten, hätte schon seinen Reiz.


Nein, das ist kein Eisbad. Das ist ein Heisser Brunnen, da kann man es sich gut gehen lassen. (Foto: Morena Pelicano)

 

33. Elisabethenkirche, Basel, 31. Dezember 2023

Trost finden in bedürftigen Zeiten

Blau leuchteten die Kirchenfenster im letzten Licht des Tages. Im gelben Schein flackerten die Kerzenflammen. Fest ruhten die sandsteinfarbenen Mauern. Hoch hinauf ging der Blick. Silvester 2023, offene Kirche Elisabethen in Basel. Versunken lauschte ich dem perlenden Piano und dem mit leichten Fingern gezupften Bass. Eine musikalische Lesung, das Thema: «Was mein Leben reicher macht – Gute Geschichten in bedürftigen Zeiten», geschrieben von den Leserinnen und Lesern der deutschen Zeitung «Die Zeit». Das grosse und das kleine Glück, eine fröhliche Begegnung zweier Fremder vor einer roten Ampel, die Freude an einem Tanz, ein Blaufink am Futterhäuschen, eine Nachbarin, die Suppe vorbeibringt, und immer wieder die Liebe. All das macht das Leben reicher.                                                                                                              

Am Schluss der Veranstaltung sang ich mit etwa hundert Besuchern und Besucherinnen «Von guten Kräften wunderbar geborgen» von Dietrich Bonhoeffer. Die Zeile «Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag» berührte mich tief. Für einen kurzen Augenblick fand ich Trost in einer Welt, die mir Angst machte, mit ihren Kriegen und all den Ungewissheiten. Und das macht mein Leben reicher – Trost finden in einer Kirche.


Manchmal brauche ich Licht und eine Kirche, um Trost zu finden. (Foto: Morena Pelicano)

 

34. Zwischen Rorschach und St. Gallen, 14. Januar 2024

Wenn das Licht durch den Nebel bricht

Im Zug sass ich und fuhr durch trübes Licht. Der Schnee war grau und braun, und die Bäume waren müde. Die Sonne nur ein ferner Traum, seit Tagen nicht gesehen. Ich las von Krieg und Hunger, und auch ich war müde. Der Sonntag ruhte nicht, lief fort im ewigen Getriebe. Der Nebel drückte auf die Felder nieder, die Welt ganz ohne buntes Gefieder, so nackt und ohne Schmuck, so kahl und ausgeliefert den Gezeiten, und die Stürme rissen mit sich fort, Menschen, Hoffnung und den Frieden.

Im Zug sass ich und sah die Welt vorüberziehen. Da brach die Sonne durch den Nebel, der Himmel blau und voller Frieden. Die Bäume glitzerten im weissen Prunk, die Felder ruhten unterm Weiss, die Welt fand ihre Schönheit wieder.

Im Zug sass ich und spürte diese Freude ob all des Lichts in diesem einen Augenblick. Es war das Glück, wenn alles schwingt in einem Dreiklang mit der Welt, wenn nichts dazwischenfunkt, wenn alles gut ist für drei Atemzüge. Wenn mich die Welt berührt, so wie sie manchmal ist, in kurzen Augenblicken, der Glaube an den Frieden, wenn alle Angst verstummt und das Licht durch den Nebel bricht.


Die Bäume glitzerten im weissen Prunk, die Welt fand ihre Schönheit wieder. (Foto: Morena Pelicano)

 

35. Schneeskulpturenfestival, Rorschach, 14. Januar 2024

Schneepferdchen schwammen durch die frostige Luft

Ich stand da und schaute zu, wie eine Schar Kinder und Erwachsene aus Schnee Skulpturen erschufen. Mit Säge, Spachtel und Stechbeitel holten sie aus einem Schneeblock Wasserwesen hervor. Popmusik lieferte den Soundtrack fürs konzentrierte Arbeiten. In Feuerschalen flackerten die Flammen. Das Publikum filmte, und der Speaker verkündete, dass es auch vegetarisches Chili con Carne gab. Auf dem Grill brutzelten Bratwürste, und Orangenpunsch gab es auch. An einem Tisch stand ein Dutzend Kinder und formte kleine Schneemänner und Schneefrauen. Der Friede eines Sonntags lag über der Szene. Eine Schildkröte schaute zum Bodensee, drei Seepferdchen schwammen durch die frostige Luft. Ein Haifisch zeigte seine Zähne, eine Muschel verbarg ein Geheimnis, und ein halbes Dutzend Kinder erschuf ein Gebirge, das tief unten im Meer ruhte. Es war ein schönes Schauen, wie die Kinder und die Erwachsenen mit dem Schnee spielten, wie sie ganz versunken waren in ihr Tun. Ich schaute zu und dachte, dass es schön wäre, wenn die Erwachsenen mehr Zeit zum Spielen hätten. Dann könnten wir uns für eine Weile vergessen und unsere Träume aus Schnee formen.


Eine Schildkröte aus Eis und Schnee. (Foto: Morena Pelicano)

 

36. HR Giger Museum, Gruyères, 28. Januar 2024

Ein schauerliches Universum

Sie blicken mich an, diese Augen, und diese Gesichter erzählen Geschichten von fremden Welten. Alles ist so ziemlich wie ein Albtraum, schauerliche Gestalten kommen auf mich zu. Aliens mit Teufelsfratzen und Hörnern. Schlangen winden sich und wollen beissen. Priesterinnen murmeln Litaneien, die ich nicht entschlüsseln kann. Aliens, mit Brüsten wie Melonen und Taillen so dünn und Knochen aus Metall, und sie schauen mir nach, wie ich mich winde in diesem Theater. Es rieselt mir kalt über den Rücken, und die reale Welt geht verloren. Und sie wollen mit mir reden, diese Aliens mit den langen Haaren und den Brustwarzen wie Dornen. Von allen Seiten umzingeln mich diese Gerippe und das Geflecht der Sehnen und Muskeln wie ein Relief, das atmet, pulsiert und pocht. Ich frage mich, woher HR Giger (1940 – 2014) all diese Visionen hatte, von diesen Aliens, so menschlich und doch so fremd, und was sie ihm zugeflüstert haben über dieses Universum, das er erschuf. Eine Welt, in der es nach Tod riecht, eine Welt in der Maschine und Mensch verschmelzen, und ich flüchte ans Tageslicht und hoffe, dass es da draussen keine Aliens gibt.


Diese Gesichter erzählen Geschichten von fremden Welten. (Foto: Morena Pelicano)

 

37. Heiliggeistkirche Bern, Lichtmess-Ritual, 2. Februar 2024

Im Tempel der Lebendigen

Im Tempel der Lebendigen war ich, stand in einem Halbkreis mit drei Dutzend Frauen, und wir sangen ein Lied vom Wasser und von der Saat in der Erde. Eine japanische Flöte begleitete das Lichtmess-Ritual mit samtigen Klängen. Vierzig Tage nach Weihnachten wird das Alte aus dem Winter hinter sich gelassen und das Licht wird begrüsst. Wir waschen unsere Hände mit Wasser, so wie es die Keltinnen taten, wenn sie sich reinigten, um den längeren Tagen entgegenzugehen. Die Lebendige ist unter uns und schenkt uns das Vergessen des Alten und den Neubeginn des anbrechenden Lichts. Wir räuchern uns mit Salbei und nehmen den Schutz mit in die Nacht und all die Tage, die kommen werden. Wir treten hinaus ins Leben nach einem Augenblick der Ruhe und Besinnung und des Neuwerdens. Die japanische Flöte begleitet uns, und die Lebendige ist der Mond, der unseren Weg erleuchtet.


Da ist ein Licht im Winter – vierzig Tage nach Weihnachten werden die Tage wieder länger. (Foto: Morena Pelicano)

 

38. Museum Tinguely, Basel, 6. Februar 2024

Die Poesie der Maschinen

Ich mache immer mal wieder Dinge, die schon seit Jahren auf meiner To-do-Liste stehen, für die aber irgendwie bis jetzt nie der richtige Zeitpunkt war. So war das auch mit dem Museum Tinguely in Basel. Ich spazierte durch den Ausstellungsraum und stand staunend vor diesen unendlich vielen grossen und kleinen Rädern, da begann es plötzlich zu quietschen und zu rasseln und zu rumpeln und zu klappern und zu klimpern. Die Klangskulptur Méta-Harmonie II war zum Leben erwacht. Es war ein bisschen so, wie ich mir das Fingerschnipsen Gottes vorstellte, als er der Welt seinen Atem einhauchte. Plötzlich drehten sich die Räder und brachten ein Klavier und ein Keyboard zum Klimpern. Kuhglocken klangen dazwischen, eine Trommel schlug, ein Gartenzwerg schaute freundlich, ein Holzpantoffel klopfte rhythmisch, und so plötzlich, wie die Maschine zum Leben erwacht war, so plötzlich verstummte sie wieder.


Das Pferd steht gelassen in all dem Quietschen, Rasseln, Rumpeln, Klappern und Klimpern. (Foto: Morena Pelicano)

 

39. Kinderfasnacht Bern, 16. Februar 2024

Viel Glitzer und Konfetti

Ein FBI-Beamter rannte durch die Menge, ein Polizist hinter ihm her, ein Feuerwehrmann spritzte mit einer Wasserpistole. Und eine Piratin trug schwarz-rot karierte Pluderhosen, weisses Rüschenhemd, schwarzer Dreizack und ein goldenes Schwert. Die kleinen Mädchen waren rosarote Einhörner, trugen lila Rüschenröckchen und silbrige Diademe, und es hatte so viele Schmetterlinge mir rosaroten Flügeln, dass ich sie gar nicht zählen konnte. Fasnacht funktioniert für die Kinder immer noch. Sich verkleiden und ein paar Stunden erwachsen sein, wenn man das FBI-Logo auf dem Rücken trägt. Oder Prinzessin sein, mit viel Glitzer auf den Wangen. Als Marienkäferchen herumhopsen und ungeduldig darauf warten, dass es endlich losgeht, mit dem Umzug. Aber vorher konnte man noch das Konfetti auf dem Boden mit der Hand zusammenwischen und es in den gut gefüllten Plastiksack rieseln lassen. Fasnacht funktioniert immer noch. Spätestens dann, wenn einem das Konfetti ins Gesicht flattert.


Ich wäre manchmal auch gerne eine Elfe mit Rüschenröckchen und Flügeln. (Foto: Morena Pelicano)

 

40. Generationenhaus Bern, Raum des Scheiterns, 21. Februar 2024

Heute schon gescheitert?

Das mit dem Scheitern ist so eine Sache. Ich bin schon oft in meinem Leben gescheitert, dachte ich bis jetzt. Also machte ich mich auf den Weg in den Raum des Scheiterns, um mal für eine Stunde darüber nachzudenken, was scheitern eigentlich ist. Ich habe mir einige der Scheitergeschichten angehört und in einem dicken Buch darüber gelesen, woran Menschen scheitern. Es hat mich sehr nachdenklich gemacht. Je älter ich werde, umso ein entspannteres Verhältnis habe ich zum Scheitern. Ich habe vieles ausprobiert, und ebenso vieles hat nicht geklappt. Das ist die negative Sichtweise. Ich habe vieles ausprobiert, und vieles hat mich auf einen Weg gebracht, auf dem ich Neues lernte, das mir heute dabei hilft, die gesammelten Erfahrungen nicht mehr in der Kategorie «Scheitern» einzuordnen. Dadurch, dass vieles nicht so kam, wie ich es erwartet und erhofft hatte, wurde mein Horizont grösser. Und wenn ich nicht gescheitert wäre, dann hätte ich dreiviertel meines Lebens verpasst. Das mit dem Scheitern ist so eine Sache. Aber ich denke, man kann auch erfolgreich scheitern.


Nein, nicht jede Krise ist eine Chance. Aber ich übe mich im erfolgreich Scheitern. (Foto: Morena Pelicano)

 

41. Frühling, 24. März 2024

Wenn die Bise nach Neubeginn riecht

Wenn die ersten Schneeglöckchen der Kälte trotzen, wenn die Forsythien mit ihren gelben Blüten locken, wenn der Morgen nicht mehr rabenschwarz ist und die Tage länger werden. Wenn die Bise nach Neubeginn riecht, dann wird es Frühling. Jedes Jahr geschieht es wie von selbst und ist doch jedes Mal ein Schauspiel, das mich zum Staunen bringt. Nach einem trostlosen Winter, der grau statt weiss war, die Sonne nur noch in der Fantasie existierte, sehnte ich mich danach, dass endlich der Vorhang aufgeht und das Frühlingspanorama sich über die Welt ausbreitet. Wenn der Löwenzahn die Wiesen gelb färbt, wenn der Raps leuchtet, wenn der Himmel endlich blau ist. Wenn an Ostern die Narzissen blühen und die wilden Kirschbäume am Waldrand mit ihren Blüten die Leichtigkeit des Seins verkünden. Wenn die Magnolien einen Hauch Rosa in die Welt zaubern und der japanische Kirschbaum mit seinem Pink zum Verweilen einlädt, dann ist er da, der Frühling, und dann bin ich glücklich, ein trunkenes Glück, und ich mache mich auf, die Welt zu entdecken.


Wenn die Forsythien mit ihren gelben Blüten locken. (Foto: Morena Pelicano)

 

42. Museum für Kommunikation, Bern, 28. März 2024

Nichts

Auch in der Musik gibt es das Nichts, die Pausen. Es ist nett, Nichts zu machen. Kleider kosten fast Nichts, und Nichts im Kühlschrank verlangt nach einem Einkauf. Wer Nichts wagt, gewinnt Nichts, geschenkt wird einem Nichts. Ein Radiergummi macht Halt vor Nichts, und manchmal hat man Nichts zum Anziehen. Nichts Neues steht in der Zeitung und ab und an ist Nichts von Bedeutung, und wenn man Löcher in die Luft starrt, dann denkt man an Nichts Konkretes, und wenn man schweigt, dann sagt man Nichts. Es kann sein, dass es Nichts zu sehen gibt oder dass aus dem Verliebtsein Nichts wird, das ist dann ein trauriges Nichts. Am FKK-Strand tragen alle Nichts, im Wasser ist das besonders schön. Hin und wieder kommt es vor, dass man beim Reden Nichts denkt, und dann wäre es einem am liebsten, wenn man Nichts gesagt hätte. Es kann auch sein, dass schlicht und einfach Nichts mehr zu machen ist und das Schicksal seinen Lauf nimmt.


Das Nichts ist sehr hell, klar und weiss und ohne Schnörkel. (Foto: Morena Pelicano)

 

43. Dinosauriermuseum Aathal, 29. März 2024

Sieben Tonnen stapften durch die Landschaft

Als ich hinaufschaute und den Dinosaurier bewunderte, da wusste ich, dass ich ein kleines, unscheinbares Würmchen bin. Der T-Rex Trinity hat eine Höhe von vier Metern, eine Länge von elf Metern und ein Gewicht von sieben Tonnen, und gelebt hat er vor 68 Millionen Jahren. Gefressen hat er andere Dinosaurier. Ich stellte mir vor, wie das damals zu- und hergegangen sein musste, als Dinosaurier durch die Landschaft stapften. Es gab auch Dinos, die im Wasser lebten oder die fliegen konnten. Es muss ein ziemlich blutiges Fressen-und-gefressen-Werden gewesen sein. Aber ich fragte mich auch, wer oder wie der Bauplan für ein solches Tier entstanden war. Als ich diese vielen Knochen betrachtete, musste ich zugeben, dass das schon ziemlich genial gewesen war. Irgendwie musste die ganze Statik stimmen, damit bei diesen Massen nicht einfach alles zusammenkrachte, wenn sich der T-Rex Trinity aufrichtete und sich auf Beutefang begab. Ich stand da und bestaunte den Dinosaurier und wunderte mich einmal mehr darüber, zu welchen unglaublichen Werken die Natur fähig war.


Der T-Rex Trinity besteht aus den Knochen von drei Sauriern. Ein Jahr lang war er im Dinosauriermuseum in Aathal ausgestellt. (Foto: Morena Pelicano)

 

44. Stapferhaus Lenzburg, Natur, 2. April 2024

Und trotzdem hüten wir die Erde nicht

Was ist Natur? Ist ein hochgezüchtetes Masthuhn noch Natur? Ist Salat, der nicht in der Erde wächst, Natur? Sind die Tulpen, die nach Weihnachten verkauft werden, Natur? Gibt es in einer Welt, die bis in den letzten Winkel erforscht und vermessen ist, noch Natur? So viele Fragen, und ich finde keine Antworten. Auch ich bin eine, die gerne in der Natur unterwegs ist. Im Wald, den See entlang, auf den Hügeln im Jura oder mit dem Velo die Aare entlang nach Solothurn. Da erfreue ich mich an den Bäumen, der Ruhe, den Wiesen und den Buntbrachen mit den Blumen. Aber neben der Freude ist da auch oft das Gefühl, dass die Menschen zu weit gegangen sind mit ihrem Drang, sich die Erde untertan zu machen. Die Erde ernährt uns, sie gibt uns Wasser, und trotzdem hüten wir sie nicht, sondern wir plündern sie aus. Die Natur leidet. Und ich trage meinen Teil zu diesem Leid bei. Aber kann man das, was es noch an Natur gibt, überhaupt noch schützen? Meere, Wälder, Flüsse und Seen, die Tiere, die Blumen? Oder ist es bereits zu spät?


Was wäre die Natur, wenn sie etwas ganz anderes wäre? (Foto: Morena Pelicano)

 

45. Genfersee, 13. April 2024

Die Sonne erzählte Geschichten

Die prächtige Frühlingssonne lockte auch mich aus der Wohnung. Als ich in Genf war, spazierte ich am See entlang, in einem beständigen Strom von Menschen, alle strahlten, sie lagen in der Sonne, badeten, hörten Musik, und ein kleines Kind pflückte ein Gänseblümchen. Es war ein Aufatmen, eine Pause in der Winterkälte, die Tulpen im Park sangen Lieder, die Narzissen summten, und die Wasserfontaine sprudelte 140 Meter in die Höhe. Wie gut doch so ein Sonnentag war. Dieses Aufatmen, dieses Unbeschwerte unterwegs sein, diese Freude, die die Sonne schenkte. Es tat so gut, einfach auf einer Parkbank zu sitzen und Sonne zu tanken, mich wärmen zu lassen, mich auftauen zu lassen und nichts anderes zu tun als einfach da sein. Kein Plan, kein Programm, schlendern und träumen, hin- und herwogen wie die Wellen auf dem See, ein Gefühl von Ferien, alles war möglich, die Welt breitete ihre Schönheit aus, die Sonne erzählte Geschichten, der Wind straffte die Segel, und mein Boot glitt dahin, es kannte das Ziel.


Der Springbrunnen im Genfersee sprudelt dann am schönsten, wenn es Frühling ist. (Foto: Morena Pelicano)

 

46. Kloster Einsiedeln, 17. April 2024

Einschüchternde Engel und viel Gold

Ich sass in der Klosterkirche und schaute zum Gewölbe hoch, und ich war tief beeindruckt von der barocken Kunst, von all diesen Engeln, den Heiligen, von Rosa und Grün und der Fantasie, mit der die Menschen einst Gott gehuldigt und seine Grösse und Allmacht der Welt verkündet hatten. Aber all die Fresken und das Gold haben mich auch eingeschüchtert. Ich fühlte mich ziemlich unvollkommen und winzig klein. Ein Mönch rezitierte einen Psalm, dann war es still. Menschen knieten nieder und beteten. Ich fragte mich, ob meine Worte Gott erreichen, wenn ich denn beten würde, oder ob er von der Pracht in der Klosterkirche abgelenkt war. Die schwarze Maria trug ein prunkvolles Gewand und hielt Jesus im Arm, auch er in einem kostbaren Kleid. Ich zündete eine Kerze an und faltete die Hände und sprach «Danke». Das geflüsterte Wort breitete seine Flügel aus und segelte davon, zu den Engeln, den Heiligen und vielleicht zu Gott.


Kerzen für die Hoffnung und die Zuversicht. (Foto: Morena Pelicano)

 

47. Museum der Kulturen, Basel, Memory – Erinnern und Vergessen, 23. April 2024

Der Tod als bunte und fröhliche Party

Ich erinnere mich an viele Begebenheiten in meinem Leben, und ebenso zahlreich sind die Erlebnisse, die ich dem Vergessen übergab. Im Museum der Kulturen gab es eine Ausstellung zu diesem Thema. Menschen bewahren Dinge auf, die sie an gute oder auch entscheidende Erlebnisse erinnern. Alben mit Familienfotos, Zeitdokumente der Wandlungen, hielten über Generationen fest, was des Erinnerns würdig ist. Ganze Völker haben ihre Mythen auf Papier gemalt, haben die Geschichten ihrer Ahnen in Holz geschnitzt oder haben die Legenden mit bunten Fäden in Stoff gestickt.

Auf meinem Estrich liegt ein grosser Koffer voller Tagebücher. Alle zwanzig Jahre hole ich sie in die Stube und blättere in den vollgeschriebenen Seiten, und dann tauchen die Erinnerungen wieder auf. Ich staune über die kleinen Dinge, die ich da aufgeschrieben habe und die einmal so gross waren, dass ich sie schriftlich bewahren wollte.

Mich haben in der Ausstellung vor allem die farbigen Totenfiguren aus Mexiko beeindruckt, mit denen der Verstorbenen gedacht wird. All diese Farben nehmen dem Tod den Schrecken, und irgendwie dachte ich, dass der Tod vielleicht auch wie eine grosse, bunte und fröhliche Party ist.


In Bunt sieht der Tod sehr freundlich aus. (Foto: Morena Pelicano)

 

48. Heiliggeistkirche Bern, Walpurgisnacht, 30. April 2024

Tanzend dem Sommer entgegen

Wir waren dreissig Frauen, zwischen Teenager und schon länger pensioniert, und wir tanzten in der Heiliggeistkirche mit Walpurgis der Nacht entgegen. Es sind gute Zeiten für Frauen, wenn wir in der Kirche tanzen und feiern können. Der Ursprung der Walpurgisnacht geht auf das keltische Fest Beltane zurück, damit wird der Sommer begrüsst. 

In einer Feuerschale flackerten Teelichter, Blumen standen auf einem Tisch. Zwei Gitarristinnen brachten unsere Füsse und unsere Körper zum Tanzen. Wir sangen Lieder in einer Sprache, die wir nicht lernen mussten, weil wir sie seit Urzeiten verstehen.

Ich habe seit Jahren nicht mehr getanzt, und am Anfang waren meine Knochen noch steif. Als ich dann das Denken abschaltete, verwandelte ich mich in eine fröhliche Frau, die sich einfach dem Rhythmus überliess. Es war toll, mit all diesen jungen und alten Frauen zusammen zu tanzen, und wir haben den Sommeranfang und unsere Weiblichkeit gefeiert.


Rund um das Feuer tanzen in der Walpurgisnacht. (Foto: Morena Pelicano)

 

49. Walk to reconnect, Schützenhauspark, Basel, 9. Mai 2024

Zeitlupenspaziergang

Am Auffahrtstag, gegen Abend, reiste ich nach Basel zum Schützenhauspark. Dort fand ich drei Gleichgesinnte und den Leiter, der das Tempo vorgab. So spazierten wir dahin, in Zeitlupe, soo laaangsam und entschleunigt. Fuss vor Fuss, und ich blickte zu den Kronen der Kastanienbäume hoch. Da schien die Sonne in die Blätter, und es sah aus wie eine Lichtinstallation. Die Äste waren schwarz und die Blüten rosa. Auf der Wiese spielten die Menschen Handball, Frauen picknickten, Kinder fuhren Rad, zwei spielten Badminton. Wir gingen sooo laaangsam, aber die Zeit blieb nicht stehen, sie tickte einfach weiter. Als ich so den Menschen zuschaute, da fühlte ich mich wie in einem Wimmelbuch. Alles passte und war schön und gut. Zehn Minuten gingen wir so dahin, und ich spürte die Muskeln in den Beinen und im Rücken. Die Füsse musste ich zähmen, wäre gerne losgerannt, einmal um den Park. Wir sagten «Tschüss», und ich trabte zur Tramhaltestelle, und ich wusste, dass ich noch nicht so weit war, das Leben sooo laaangsam anzugehen.


Ich zähmte meine Füsse, aber eigentlich wollte ich lostraben. (Foto: Morena Pelicano)

 

50. Genfersee, Schifffahrt von Genf nach Lausanne, 5. Juli 2024

Ein sonnensatter Tag

Es war dann tatsächlich noch Sommer geworden. Kaum zu glauben nach all dem Regen und der Kälte. In Genf ging ich aufs Schiff, nahm auf der vordersten Bank Platz. Als das Horn tutete, war die Welt endlich wieder einmal in Ordnung. Es gab nichts Besseres, was ich an einem Sommertag machen konnte. An den Ufern gab es kleine Parkanlagen mit Rosenrabatten. Rote Geranien schmückten die Schiffländen. Spazierwege führten zwischen den Bäumen hindurch. Das Wasser war dunkelblau, und die Wolken tuschten geheime Zeichen an den Himmel. In der Ferne ruhten Berge, die die letzten Schneeflecken hüteten. Segelschiffe kreuzten, ein Wasserskifahrer verlor das Gleichgewicht und tauchte unter. Paddlerinnen glitten auf ihren SUPs dahin. Auf den Ufersteinen sassen Sonnenhungrige und winkten, und ich erwiderte den Gruss. Der Fahrtwind kühlte wunderbar, und die Flagge flatterte munter. Sonnensatt ging ich in Lausanne an Land, schaute noch ein letztes Mal auf den See und ging meiner Wege.


Die Genferfahne flatterte munter, und der Himmel war grenzenlos blau. (Foto: Morena Pelicano)

 

51. Vierwaldstättersee, Schifffahrt von Luzern nach Flüelen, 9. Juli 2024

Smaragdgrüne Königinnen und drei Eidgenossen

Auf dem Vierwaldstättersee ist die Schweiz wahrscheinlich am schönsten. Der Trubel der Stadt verstummt. Die Kappelbrücke gleitet aus dem Bild, die Prunkhotels schrumpfen zu unbedeutenden Punkten. Der Himmel weitet sich in einem hellblauen Rund. Am Saum klettern steile Wälder empor, Berge erheben sich wie Königinnen in smaragdgrünen Gewändern und wachen über dem See und über der Welt. Als ich all das sah, da fühlte ich mich geborgen wie ein Kind in einer Krippe, geborgen in der Ruhe und der Schönheit. Das Schiff gleitet am Rütli vorbei, und da denke ich, dass die Legende der drei Eidgenossen durchaus im Bereich des Möglichen sein könnte. Vielleicht. Kurz vor Flüelen atmete ich tief durch, nahm die Ruhe und die Schönheit mit, ging vom Schiff auf den Zug und wagte mich ziemlich munter in den Alltag zurück. In den nächsten Tagen driftete ich immer mal wieder davon, zu den Königinnen – und auch zu den drei Eidgenossen.


Auf dem Vierwaldstättersee ist die Schweiz wahrscheinlich am schönsten. (Foto: Morena Pelicano)

 

52. Thunersee, Schifffahrt von Thun nach Interlaken West, 18. Juli 2024

Und über allem schwebte diese Ruhe

Meine kleine Kreuzfahrt führte mich von Thun nach Interlaken West. Da der Sommer erst angefangen hatte, und man nie wusste, ob er auch weiterging, musste ich gleich nochmals eine Schifffahrt machen. Temporäre Feriengefühle, bevor die nächste Regenfront den Himmel verdüsterte. Wie ein grosser, flach geschliffener Türkis lag der See da. Auf den weit entfernten Wiesen lag das Heu. Chalets, von Wind und Wetter dunkel gebeizt, standen da wie Häuschen für Zwerge. Das Türkis war weit, so weit, und alles, was die Zeit so mit sich brachte, war weit, weit weg. Und über allem schwebte diese Ruhe, eine Gelassenheit, so zart wie Samt und so beständig wie der Himmel. Die Sonne flüsterte leise mit dem Wind, und er erzählte von Tagen, die noch kommen werden. Tage, sonnengeküsst, verschwenderisch, voller Farben und Duft und Leichtigkeit und Tanzen. Der Sommer reichte mir die Hand, als ich in Interlaken West bei der Schifflände ausstieg. Ich schenkte ihm ein Lächeln.


Das Türkis war weit, und was die Zeit so mit sich brachte, war weit, weit weg. (Foto: Morena Pelicano)