Der perfekte Augenblick

Und dann kam er einfach herbeigesegelt, dieser Moment, und mein Glück war vollkommen

Wie oft habe ich davon geträumt, vom perfekten Augenblick, ohne konkret zu wissen, wie er sein sollte, dieser Moment, in dem alles stimmt? In Villagio im Bündnerland fand er mich.

Wie oft bin ich in den Zug gestiegen, um zu suchen und zu entdecken, um dann, auf der Heimreise, mit leichtem Wehgefühl zu erkennen, es war gut, es war schön, doch vorgestellt hatte ich es mir anders. Aber wie anders, das konnte ich nicht benennen. Wie oft bin ich an Bahnperrons gestanden, habe auf Plakatwände geschaut, die mir ebendiesen Augenblick versprachen, wenn ich ein Eis esse, der ultimative Genuss, oder einen Burger, der Beste der Besten, oder mir eine Uhr kaufe für tausende von Franken und jeder Blick aufs Zifferblatt würde mir verklickern, jetzt hast du ihn, den perfekten Zeitpunkt. Wie oft habe ich ein Buch aufgeschlagen auf der Suche nach der absoluten Geschichte, gelesen und mich vertieft und doch immer wieder zögerlich die Seiten umgeschlagen mit dem Gedanken, das ist nicht das, was ich erwartet habe, da fehlt irgendwas, doch was fehlte, war mir nicht klar.

Es ist so eine Sache mit der Vorstellung von diesem vollkommenen Augenblick, überhaupt mit der Vorstellung, die doch so viel zu tun hat mit dem, was ich bereits erlebt habe. Alle Wanderungen, Velotouren, Bücher, Musik, Fotos, die fast perfekte Kokosnuss-Kürbis-Suppe, von allem ist ein bestimmtes Detail in meinem Kopf gespeichert und all das zusammen ergibt die Vorstellung von diesem einen Moment. Noch auf jenen Hügel steigen, noch eine Viertelsekunde länger belichten, am Morgen früher an der Aare entlangradeln, noch zu jener Ausstellung reisen, noch eine Prise Salz.

Villaggio, der Anfang der Vollkommenheit

Doch gestern war er plötzlich da, dieser vollendete Augenblick, in Villaggio im Bündnerland. Ich stand an der Postautohaltestelle und spielte sofort mit dem Gedanken, hierherzuziehen, in dieses kleine Dörfchen, zu leben in dieser versunkenen Stille, zu hausen zwischen den steilen Bergen, von Wäldern bedeckt, die nach kühlem Schatten und Föhren und Tannen rochen. Ein Gefühl von Heimat legte sich wohlig um meine Schultern. Mein Reiseziel war der San Bernadino, ein Pass, auf dem ich noch nie war. Auf der hintersten Bank des kleinen Postautos sass ich und liess mich chauffieren, schaute auf die Strasse zurück, die sich in unzähligen Haarnadelkurven die Bergwelt hinaufschlängelte. Links und rechts stoppeliges Grün mit Blumen gelb, lila, weiss, blau. Der Himmel eine träumerische Verführung und das Grau der Steine und Felsen lockte mit seiner ewigen Beständigkeit. Vierundzwanzig Minuten wahrlich entzücktes Dasitzen. Auf der Passhöhe Hospiz machte ich einige Dutzend Schritte hinein in diese Welt, in diesen Augenblick, der perfekter war, als alles, was ich mir je vorgestellt hatte. Ich setzte mich in die Wiese und der Lago d’Isola glitzerte blau und ich war einfach glücklich.

Kein Sehnen und kein Wünschen mehr

Und dieses Glück kam so unverhofft, kam einfach so herbeigesegelt, dieser absolute Moment kam einfach so zu mir. Manchmal ist das so mit dem Suchen und Finden, dass es mich findet und mich im Suchen überrascht, und dann, ja, dann bin ich sprachlos und diese Sprachlosigkeit ist grossartig, wenn ich nichts mehr benennen muss, wenn ich nicht mehr nach Begriffen und Worten suche, wenn es nur noch diese Vollkommenheit gibt, kein Sehnen und kein Wünschen mehr.

Ich verweilte und der Wind spielte mit den Grashalmen. Schwarze Motorräder kurvten die Strasse hinauf, luxuriöse Wohnmobile wurden auf den Parkplatz gelenkt. Touristen sassen an Tischen und assen Brot und Käse und tranken Rotwein. Kinder rannten herum und Hunde lagen träge im Schatten und der Kellner plauderte mit den Gästen. Alle hatten Ferien und wahrscheinlich war es für viele der perfekte Augenblick. Ich speicherte alles in meiner Erinnerung.

Als ich auf dem Heimweg wieder auf einer Bank sass und auf eine Plakatwand schaute, die mich mit einem perfekten Schokoladeneis verführen wollte, da wusste ich, der vollkommene Genuss liegt dort draussen, bei Villaggio und auf dem San Bernadino, und er schmeckt nach Felsen, ist stoppeliges Grün und glitzerndes Blau und sie bleiben, diese vollendeten Momente, und schmelzen nicht wie Eis.

 


An diesem Tag habe ich ihn nicht gesucht, den perfekten Augenblick, doch er überraschte mich auf dem San Bernadino. (Foto: Morena Pelicano)