Das Patchwork neugestalten

Zu fremden Orten reisen und so etwas Neues über sich selbst erfahren

Weil der Mensch sich anders und neu erleben will, zieht er los, sich und die Welt zu entdecken, denn Menschen wollen ihr Sein immer mal anders gestalten.

Ich stehe auf dem Pilatus und schaue fasziniert auf die Welt hinunter, ein Patchwork aus allerlei Seen, Wiesen, Getreidefeldern, Häusern, so gross wie Zündholzschachteln. Ich bin die Königin der Gipfelstürmerinnen, bin ganz mühelos mit der Gondel von Kriens aus über Baumwipfel hinaufgeschwebt, hoch hinauf, nahe zu den Wolken, verlassene Schäfchen, die in ihrer dunstigen Versunkenheit dahinziehen. Es ist schön, am morgen früh um viertel nach neun Uhr auf einem Berg zu sein, das geschäftige Gucken und das zielstrebige Hin und Her der Touristen zu beobachten und hinzuschauen zum Horizont, wo sich die Welt zu Spitzen türmt und Grate sich in der unendlichen Ferne verlieren. Auch ich steige die steinernen Treppenstufen hoch zum Pilatus Kulm, links ein Holzgeländer und der Abgrund, rechts der nackte Fels. Einige Touristen wollen schneller sein und ich lasse ihnen den Vortritt. 

Zurückschauen und sehen, woher man kommt

Die klickenden Mobiles, das Stimmengewirr in Englisch, die entzückten Ausrufe, all das gehört zum Reisen. Ich bin angekommen auf dem Berg, 2128 Meter Distanz zum Alltag, der irgendwo in der Ferne liegt. Heute wollte ich wissen, wie das ist, auf einem Berg zu stehen, Touristin zu sein, wollte staunen und mich wundern über die Verwerfungen der Erde, die die Berge formten. Jetzt verstehe ich, warum die Menschen auf Berge stürmen, damit sie oben stehen und hinunterschauen können auf den Weg, den sie gekommen sind. Denn das ist das Schöne, zurückzuschauen und sagen zu können, von da komme ich her.

Und macht der Mensch nicht allerhand Sachen, um feststellen zu können, von da komme ich her? Geht der Mensch nicht deshalb auf Reisen, um verschiedene Wege zurückzulegen, damit er sich von vielen Seiten neu erkunden kann? Steigt der Mensch nicht deshalb ins Flugzeug nach Tibet? Beschränkt er sich nicht deshalb freiwillig auf engsten Raum und lebt für zwei Wochen in einem Hausboot und tuckert auf dem Canal du Loing durch Frankreich? Strampelt er nicht deshalb mit dem Velo vom Toggenburg nach London und wandert auf Pilgerwegen, weil er nach neuen Eindrücken von sich selbst sucht? Will er nicht deshalb ausbrechen aus dem Alltag, weil er des Gewohnten überdrüssig ist und sich nach Abwechslung des eigenen Seins sehnt? So wie ich jetzt auf dem Pilatus die Welt erschaue, ein Patchwork aus allerlei Formen, Farben, Geräuschen, das mein Ich neu verortet und mich aus dem gewohnten Trott herauslockt.

Abenteuerlicher Übermut

Vor lauter abenteuerlichem Übermut verwandle ich mich in eine Wolke, segle dahin, sammle Wasser und perle als Regen auf die Erde, lasse mich von der Sonne neu formen, koche dem Himmel einen Kaffee, wenn noch alles schläft und die Sterne weiterziehen, einem neuen Reisetag entgegen, der im Dunst versunken ist. Die Menschen träumen sich aus ihrem Alltag fort, erträumen sich ein neues Ich, planen Reisen, erhoffen sich ein Abenteuer, das ihrer Fantasie Nahrung gibt, um die eigenen Grenzen zu erweitern und das Sein zu vergrössern. Wollen nicht immer die gleichen Wege gehen, wollen nicht immer auf das gleiche Patchwork hinunterschauen, denn sie wollen was erfahren, über sich und die Welt.

Ich bin die Gipfelstürmerin, die nun ziemlich melancholisch im Bus sitzt und träumt, bin noch eine Wolke, die auf den Pilatus hinunterschaut. Irgendwann realisiere ich, dass ich hätte umsteigen müssen Richtung Luzern Bahnhof. Die Höhenluft hat meine Sinne ein bisschen durcheinandergebracht und so lande ich in der Pampa, der nächst Bus kommt dann mal. Doch die Wolkengedanken verflüchtigen sich nicht, sie gucken immer noch vom Berg hinunter ins Tal, gucken ins Patchwork, grünes und ockerfarbenes, verweilen auf den Wegen, die sich die Berge hochwinden, Wege, die ich gehen kann und die das Patchwork des Alltags neu ordnen.

 


Auf dem Pilatus kann man sich selbst und die Welt aus einer anderen Perspektive erleben. (Foto: Morena Pelicano)